THE FUTURE LABORATORY

Interview mit Martin Raymond. SPEX, Mai/Juni 2012

Londons East End, Hackney, Hoxton, ist die herzlichst mögliche Umarmung für jeden Versuch der Trendprognose. Zwei Querstraßen vom Spitalfield Market ist plötzlich Anwohnerstille: The Future Laboratory liegt in einem grauen, schmalen Stadthaus mit Klingel, aber ohne Schild, gut versteckt. Ein schmaler Korridor mit Fußabtreterteppich über die gesamte Länge, und links an Haken eine Reihe weißer Labormäntel. Erster Gedanke: Hier wird der Laboratoriumsgedanke zu ernst genommen. Erste Auskunft: Das sind Mäntel zum Schutz vor den Bienen. Auf dem Dach von The Future Laboratory gibt es einen kleinen Bienenstock, seit einem Jahr – deswegen die Mäntel, samt einem mit Netzüberzug für den Kopf.

Die Kunstmöblierung des kleinen Wartezimmers erschließt sich nach dem Interview – ein paar Silberskulpturen, zwei moderne Lithographien, und vier identische Kitschpostkarten, Stadt-Meer-Himmel samt Blütenzweig im Vordergrund, die gegeneinander gesetzt ein geometrisch verschachteltes Muster ergeben: die Rückkehr des handgemachten Objekts. Vorerst sitzt die Besucherin auf dem Daybed mit weißem Planenüberzug, der so verwittert ist, als gelte es zu beweisen, dass es heute um Materialien geht, die schön altern können – als Rückversicherung, die ein Teil der eben von The Future Laboratory ausgerufenen Tendenz zur Not/stalgia ist. Die Bienen sind schließlich auch eine Verlängerung des Urban Farming auf Dachgärten. Warum sollte ein Trendforschungsbüro immun gegen die eigenen Trends sein? Wie man so denkt, wenn man wartet und nicht weiß, dass eine halbe Stunde daraus werden wird.

The Future Laboratory, gegründet vor 12 Jahren von Martin Raymond und Chris Sanderson, besteht eigentlich aus drei Abteilungen: der Trendforschungsabteilung LS:N global, der Forschungsabteilung Future Poll und eben The Future Laboratory. Letzteres ist die Strategie-Sektion, wo das, was LS:N global vorausgesagt und Future Poll überprüft hat, für Klienten wie BMW, L’Oreal, Condé Nast oder Cadillac in Strategien übersetzt wird. Die Dreiteilung ist der Versuch, Trendforschung, diese vage Wissenschaft mit Hang zu sonderbaren Komposita, in etwas möglichst Fassbares zu verwandeln. Bei LS:N arbeiten zwölf Journalisten vor Ort mit 250 Korrespondenten in verschieden Städten weltweit zusammen – unter anderem kommunizieren sie über Konsumentenforschung, Mode, Retail. Future Poll, die Abteilung für qualitative und quantitative Umfragen, prüft die Vorhersagen von LS:N mit den Konsumenten gegen, während The Future Laboratory als Sektion der Implementierung gedacht ist.

Ab und an kommt einer der zumeist jungen, in diversen Spielarten nach Hackney aussehenden Mitarbeiter durch die Tür hinein und geht durch die Hintertür, die Glasfenster hat, wieder hinaus: Ein Sicherheitstrakt sieht anders aus. Wer hier hinein will, schafft das auch trotz Hängeschloss. Zwischendurch bittet der Empfangskollege die Empfangskollegin: Can you chase Martin again?

Der Weg in dessen Büro im dritten Stock ist ein Sprint die schmalen Holztreppen hinauf, vorbei an Gemeinschaftsbüros von überschaubarer Größe, in denen mit Schwingtüren und Sichtfenstern alles auf Durchlässigkeit angelegt ist. Im schmalen Nebenhaus liegen auf fünf Stockwerken nur Besprechungsräume, einer über dem anderen. Für einen, der heute Meeting an Meeting hat, ist Martin Raymond auf eine erstaunlich gelassene Weise präsent. Er trägt einen Strickpullover mit einem großen M auf der Brust als einzigem Muster. Hübsch.

Martin Raymond, fangen wir grundsätzlich an: Was ist das nächste große Ding?

Wenn wir Europa und die USA anschauen, ist der große übergreifende Trend sicher die Rückkehr zum Konservativen. Zunächst einmal heißt das schlicht Revivaldenken: Die Leute denken die Dinge wieder lokal, auf Nachbarschaft und Gemeinschaft hin. Was eine gute Sache ist, wenn es nicht – wie in der Schweiz – in Minarettverbote mündet, oder sich, wie in Teilen von Deutschland, in England und den USA, in einem neuen rechten Denken und neuen Einwanderungsdebatten zeigt. Um diese Balance geht es eigentlich immer, wenn man einen Trend analysiert: Was bedeutet er, was ist die versteckte Bedeutung, und was sind die möglichen Implikationen?

Was bedeutet er?

Der positive Aspekt ist, dass sich die Leute erinnern. Im Konservativismus der achtziger Jahre ging es um Globalisierung im Namen der freien Marktwirtschaft: Die Herstellung wurde ausgelagert, alle sprachen von Billigproduktion. Heute haben wir einen neuen Lokalismus.

Sie nennen dieses Zurückblicken Not/stalgia. Das klingt nach: rückwärtsgewandt, aber doch nicht.

Not/stalgia ist das Überthema. Viele Leute denken derzeit über die Vergangenheit nach, auch über ihre eigene – aber nicht im Sinne eines Früher-war-es-besser. Es ist ein nicht-nostalgisches Zurückschauen.

Dieses Zurückschauen scheint einerseits eine Befindlichkeit zu sein, andererseits eine Ästhetik. Was genau ist die Befindlichkeit?

Das große Ding im Moment ist die Neubewertung dessen, was man eigentlich für ein gutes und glückliches Leben braucht. Der Fokus auf den Besitz, das Je-mehr-desto-besser der achtziger und neunziger Jahre, wird zunehmend dadurch verdrängt, dass sich Leute fragen: Was brauche ich eigentlich? In diesem Revivaldenken geht es um vergessene Traditionen und Techniken – was übrigens auch den Wunsch nach mehr Face-to-face-Begegnungen einschließt. Grundsätzlich ist das eine Tendenz zum Sinnstiftenden: Es gibt in ganz Europa eine rasante Steigerung der Beschäftigung mit Lebenskunst. Ich habe allein in dieser Woche zehn E-Mails von verschiedenen europäischen Klöstern bekommen, die Retreats gegen eine Spende anbieten.

Woher kommt diese Abwendung vom Materiellen? Mitunter wird sie ja als eine Art Notwehr gelesen: Der gute Geschmack ist die Selbstverteidigung des alten Europa.

Interessant ist allerdings, dass wir hier von Leuten sprechen, die in ihren Dreißigern und Vierzigern sind. Die Fünfzigjähren sind eher noch mit dem Abzahlen der zweiten Rate für ihr Haus beschäftigt, außerdem hängen ihnen die Achtziger-Jahre-Maximen viel mehr an – kurz: Filofaxes und Konkurrenz. Die Generation X hingegen hat jetzt ein paar Jahre flexiblen Lebens hinter sich – Arbeit, die in den Abend hineinreicht, Frauen mit eigenem Business, die eine Auszeit nehmen wollten, um Kinder zu bekommen, aber doch irgendwie weitergearbeitet haben: Diese Generation sucht eine neue Balance. So sitzen die Leute, die früher auf Ibiza Partys gefeiert haben, heute dort in Meditationskursen.

Was ist mit den Jüngeren?

Da ist es wieder anders. Wir haben das mit dem Begriff Net/stalgia beschrieben, einer ungeheuren Nostalgie der späten Teens und Anfang Zwanzigjährigen für die Frühphase des Internet und dessen Ästhetik: für Giff-Art, schlechte HTML-Seiten und Grafiken mit übersaturierten Farben, Pixels – all das wird wieder Teil der visuellen Kultur. Auch 8-Bit-Musik und Calculator Music kommen zurück. Und das andere, was die Jungen tun ist, Arbeit und Freizeit zu trennen.

Warum?

Weil sie ihre Eltern, die heute Mitte Vierzigjährigen, für den besten Beweis halten, dass ständiges Arbeiten unglücklich und müde macht. Diese Eltern haben sehr hart und bis spätabends gearbeitet, um ihren Kindern all den Wohlstand bezahlen zu können. Aber was hat all diese Anstrengung ihren Kindern gebracht? Aus deren Perspektive: letztlich nichts. Denn sie haben heute trotzdem keinen Job.

Was ist der große Unterschied zur Generation davor, zu den über 35-Jährigen?

Die Jüngeren glauben nicht, dass es einen Job gibt, der genau für sie gemacht ist. Sie haben eher die Einstellung, dass man dieses oder jenes arbeiten kann. Vom Kopf her sind sie fast wie Freelancer. Sie bleiben bis spät abends, wenn es gefordert ist – aber nicht aus Überzeugung. Es gibt für sie nicht diese Maxime: Du solltest lange arbeiten. Arbeit heißt für die Net/stalgians schlicht: Jemand bezahlt dich. Sie haben wieder Hobbies.

Klingt, als seien sie weniger anfällig für das, was man kreative Selbstausbeutung nennt.

Es ist tatsächlich eine Rückkehr zum Prinzip nine to five. Was wir Bleisure genannt haben, das Verwischen der Grenzen von Arbeit und Freizeit vor allem in den Kreativindustrien, das betrifft Leute in ihren Dreißigern. Arbeit war für sie Selbstverwirklichung. Aber letztlich arbeiten sie viel härter als ihre Eltern, das ist das Problem. Und die Eltern wiederum können im Traum nicht verstehen, warum ihre Söhne und Töchter derart lang arbeiten.

Geschweige denn, was sie eigentlich arbeiten.

Ja, sie verstehen die Art der Arbeit nicht – und irgendwann gibt man auf, es ihnen zu erklären. Ohnehin geht es diesen Industrien des Immateriellen um kontinuierliches Upskilling und Reskilling. Für die Net/stalgians und die Revivalists zählt es wieder, physische Dinge zu tun und Praktisches zu lernen: Drucken, handwerkliches Herstellen. Der Generation X ging es um Marketing, Media, Immaterialles. Revivalists sind aufs reale Produzieren konzentriert.

Macht es genau diese Subsegmentierung nicht schwierig, überhaupt noch Trends vorherzusagen?

Ich würde sagen, sie macht es leichter, weil man genau analysieren kann, was einen Trend treibt. Meist wird ein Trend zwar von verschiedenen Altersgruppen geteilt, es gibt aber eine zentrale Altersgruppe, die ihn beginnt.

Warum ist die Altersgruppe zentral?

Weil diese Zeit, in der das soziale Coming Out stattfindet, mitsamt allen kulturellen Referenzen, auch später den Bezugsrahmen bildet. Es liegt etwas Generationstypisches darin, außerdem erinnern sich die meisten Leute, wenn sie zurückschauen, an genau diese Jahre zwischen 16 und 25, weil es die Zeit des Reflektierens und Erwachsenwerdens ist. Für mich war das Punk und New Wave, später dann Krautrock. Und jemand, der mir zehn Jahre hinterher ist, hat jetzt eine Nostalgie für die Neunziger.

Wo nimmt der neue Revivalism seinen Ausgang – und wie ist er motiviert?

Interessanterweise sind es die Zwanzigjährigen bis Anfang Dreißigjährigen, Leute, die mit dem Internet und allgegenwärtiger Technologie aufgewachsen sind. Nehmen Sie unser Designteam, alle zwischen 24 und 27: Sie drucken mit Begeisterung Magazine, stellen Dinge her, machen Siebdrucke, kleine Ausstellungsabende. Ich lese meine Bücher auf dem iPad, aber wenn Sie ein Stockwerk tiefer gehen, hat dort jeder gedruckte Bücher, kleine Notizbücher – für diese Generation sind physische Dinge das Neue Reale, the new real. In diesem Revivalism kommen Risograph-Drucke wieder, Holzschnitzerei, Linotype-Setzmaschinen – all das Handwerk und die Berufe, die fast verschwunden sind, ebenso Schnittkonstruktion, Näherei. Das, was für unsere Großeltern selbstverständlich war, wird nun von einer neuen Generation wieder neu aufgelegt. Es ist eine Nostalgie, in der es um das Wiederentdecken von Fähigkeiten geht: darum, sich selbst etwas beizubringen, das man für wertvoll und künstlerisch hält. Man bildet die eigenen Talente aus, um in der Welt sichtbar zu sein.

Wie lesen Sie diese neue Begeisterung für das Analoge?

Es ist eine andere Erfahrung, etwas selbst herzustellen; und die Leute sind wesentlich stolzer auf etwas, das sie physisch zeigen können. Jeder sagt heute: Schau dir meinen Blog an. Aber es kann heute eben jeder einen Blog machen – einen zu schreiben, ist dann noch mal etwas anderes. Aber nicht jeder kann ein Buch binden. Das Internet hat ein falsches Gefühl von Erreichbarkeit und von Talent geschaffen.

Was bedeutet die Rückkehr zum Realen eigentlich für die so genannten Industrien des Bullshit – Marketing, PR?

Sie werden sich verändern. Bisher ist die größte Veränderung, dass die Daten, die früher nur dem Marketing zugänglich waren, für alle zugänglich sind. Und mehr noch: Der Durchschnittskonsument weiß heute mehr darüber, was die Leute denken, als der durchschnittliche CEO. Darüber hinaus wird sich der Umgang mit Daten rasant verändern. Wir haben diese Ökonomie der Reputation untersucht: Im Moment merken die Leute erst, wie wertvoll ihre Daten sind – das ist der erste Schritt. Der zweite ist, dass jemand auswertet, was genau sie wert sind, und der dritte, dass die Leute das, was sie umsonst weggegeben haben, wieder zurückziehen und sagen: Ihr könnt meine Daten nur haben, wenn ihr dafür bezahlt. Das ist die nächste Phase in der Übernahme durch die Konsumenten. Firmen wie reputation.com berechnen bereits, was die eigenen Daten wert sind; und nicht nur das: Sie entfernen sie aus den Datenbanken.

Das klingt nach einer Machtverschiebung zwischen Marke und Konsument.

In den Neunzigern haben wir uns von einer Transaktionskultur in eine Beziehungskultur bewegt. Und jetzt leben wir in einer Konversationskultur. Das Problem am Internet ist: Es bringt eine Kultur hervor, in der die Leute erwarten, dass man ihre Meinung anhört und ihre Ansichten umsetzt. Bald wird es wieder um Ausschluss gehen, um Firmenstrategien, wo man dem Kunden sagt: Ich verkaufe dieses Produkt hier, wenn du es nicht willst, dann kauf es eben nicht – aber belästige mich nicht weiter.

In der Mode dürfte so ein leicht diktatorisches Moment gut funktionieren.

Tatsächlich gehen viele Luxusmarken zu genau dieser Haltung zurück: »Demokratisches Design? Hübsche Idee – aber wir entwerfen hier genau die Tasche, die wir entwerfen wollen.« Der Trick ist: Das Unternehmen muss verstehen, dass es diese Leute nicht als Kunden gewinnen wird. Und die Kunden müssen verstehen, dass ihre Meinung nicht interessiert.

Ist das eine neue Höflichkeit oder eine neue Harschheit?

Wenn ich zu Ihnen nach Hause komme und sage: Schön hier, aber das da gefällt mir nicht, und das da drüben auch nicht – würden Sie es ändern? Sicher nicht. Sie würden sagen: Interessiert mich nicht. Im Moment reagieren die Marken noch auf den Strom von Meinungs- und Erwartungsäußerungen im Internet. Wir haben jetzt zwanzig Jahre der Erosion von Integrität gesehen, und ich glaube, über die nächsten zwanzig Jahre werden wir die Rückwärtsbewegung erleben. Und wieder: Das ist eine gute und problematische Sache zugleich. Gut, weil es einige Unternehmen vertragen können, etwas robuster in dem zu sein, was sie eigentlich anbieten. Auf der anderen Seite ist es arrogant – und ein Stück weit eine Bewegung zurück zum Dorf, das zu Fremden sagt: Das ist unser Dorf!

Klingen Sie deswegen skeptisch, wenn Sie vom neuen Konservativismus sprechen?

Meine Befürchtung ist, dass es beim neuen Konservativismus letztlich um Verweigerung geht. Die Anhänger der Tea Party, die ich in den USA getroffen habe, sind reaktionär, forschungsfeindlich, gegen Innovationen, gegen das Neue. Diese Form des Konservativismus ist tatsächlich gefährlich und hat wenig mit dem gängigen Verständnis des Begriffs zu tun – Dinge zu bewahren, Tugenden wie Rücksichtnahme oder Höflichkeit zu pflegen. Meine Befürchtung ist, dass viele der konservativen Werte, die wir derzeit sehen, sich zu gefährlichen Überzeugungen und Praktiken auswachsen werden, bei denen es letztlich darum geht, sich nicht mehr auf andere Kulturen einzulassen. Die Tea-Party-Bewegung für sich genommen mag harmlos erscheinen, aber wenn ich das größere Bild in den Blick nehme, global, dann sage ich: Es ist gefährlich.