ÜBER ELEGANZ

Interview mit Robert Pfaller. DAS MAGAZIN, 16.9. 2011

Der Wiener Kulturwissenschaftler Robert Pfaller skizziert in seinem neuen Buch «Wofür es sich zu leben lohnt» Elemente einer hedonistischeren Lebensphilosophie. Dabei spielt die Eleganz als Glückstechnik eine wichtige Rolle.

Herr Pfaller, was ist denn eigentlich Eleganz?

Eleganz entsteht, wenn wir uns in einer Art Doppelbelichtung erleben: wenn das, was wir tun, von einem Idealbild gedeckt ist. Das heisst nicht, dass es diese Tat oder Geste jemals gegeben haben muss. Aber in dem Moment, wo man die Geste sieht oder macht, hat man das Gefühl: So muss die sein. Damit so eine Doppelbelichtung zustande kommt, ist es notwendig, dass wir uns beobachtet fühlen — und zwar von einer Instanz, die mit keinem der Anwesenden zusammenfällt: einem naiven Beobachter, der nur auf den Augenschein achtet, einem unsichtbaren Dritten.

Wie wirkt man denn selbst eleganter? Muss man sich dazu einfach in jeder Situation zusammennehmen?

Ja, allerdings nicht in einem repressiven Sinne. Das Bezeichnende an der Eleganz — und deswegen ist sie eine Glückstechnik — besteht eben darin, dass sie die Wirkungskraft von Individuen erweitert. Es ist ein bisschen unbequem, man muss etwas lernen — aber wenn man sich darin übt, dann steigern sich die eigenen Möglichkeiten gewaltig.

Wie meinen Sie das? Ein Beispiel.

Wer Eleganz übt, steigert vor allem seine geselligen Fähigkeiten. Das wiederum ermöglicht, mit Menschen auf einer Ebene umzugehen, auf der man eigentümlich unverletzbar ist. Die Eleganz erlaubt ja, dass wir uns ein Stück weit von uns selbst wegbewegen. Wir treten nicht mit unserer privaten Identität auf, sondern mit einer Rolle, die wir wie Schauspieler spielen — und die wir gut spielen müssen. Das hat den interessanten Effekt, dass wir nicht empfindlich sind für unsere persönlichen Wehwehchen: Alles, was in dieser Rolle gesagt wird, trifft uns nicht als Person. Deswegen kommt es in einer Gesellschaft, in der es wenig Eleganz und wenig Gelegenheit zu ihr gibt, zu diesen extremen Empfindlichkeiten. Im Moment sind ja alle verletzt, belästigt, angeekelt — weil sie ständig mit ihrer nackten Person auftreten.

Sie nennen diese Abscheu in Ihrem Buch die «Angst vor dem anderen»: vor all dem, was nicht ichkonform ist.

Bezeichnend ist, dass wir das Individuelle in unserer privaten Person suchen. Das ist eine Umdeutung, die in den letzten zwanzig, dreissig Jahren in westlichen Gesellschaften stattgefunden hat. In Höflichkeitscodes kann man auch sehr individuell auftreten. Das Individuelle ist gerade die Weise, in der man die Rolle spielt — nicht das wirkliche Ich. Nach 1968 haben wir gelernt zu denken, wir würden uns immer dann befreien, wenn wir ganz wir selbst sind. Deswegen sind uns alle Rollen suspekt. Dafür halten wir jede private Empfindung für mitteilungsrelevant.

Wir rücken ständig mit unserer privaten Person in den Vordergrund und halten das für unsere Individualität.

Dabei sind unsere Privatmarotten ja ziemlich austauschbar. Genau das macht uns aber so verletzbar. Das ist der Narzissmus, den Richard Sennett in der Kultur der Intimität seit den Siebzigerjahren auftauchen sah. Dieser Narzissmus will immer ganz bei sich selbst bleiben, auf keinen Fall eine Rolle spielen. Aber je mehr er auf sich selbst beharrt, desto mehr frustriert er sich selbst — und übrigens auch sein Bedürfnis nach Individualität.

Das müssen Sie genauer erklären.

Wenn wir ganz wir selbst sein wollen, bleiben uns die wichtigsten Lustmöglichkeiten in der Kultur verschlossen. Ganz selbst wollen wir eigentlich gar nichts — oder nur ganz einfache Dinge wie Wärme, Windstille, Ruhe: sozusagen Naturqualitäten. Sobald es um kulturelle Lust geht, bekommen wir es mit etwas Zwiespältigem zu tun: mit Alkohol, der berauschend wirkt und Teile unserer Vernunft trübt, sodass wir erheitert sind, aber vielleicht auch Dinge sagen, die wir gar nicht gesagt haben wollen. Oder mit Tabakkultur, was ungesund ist, aber glamourös und elegant. Oder dem Rausch der Musik, der uns betört und uns wegzieht von unseren Alltagssorgen: grossartig, aber auch nicht dauerhaft bekömmlich. Immer haben diese Genüsse etwas Zwiespältiges an sich. Wenn wir nur auf das schauen, was wir ganz und immer wollen und was ganz ichkonform ist, schliesst das all diese Genüsse aus.

Okay. Aber wie überwindet man diese «Zwiespältigkeit» in allen Dingen, die Spass machen?

Wir müssen uns als gesellige Wesen erleben. Wir müssen in eine Rolle eintreten, dann gelingt es uns, aus diesem Zwiespältigen etwas Grossartiges zu machen. Das ist eigentlich Kultur: dass wir zwiespältige Elemente heranziehen und sie in bestimmten Momenten nicht nur ertragen, sondern sogar feiern können und sagen: Das ist jetzt grossartig. Das beweist mir jetzt wieder, dass es sich zu leben lohnt.

Dann sind wir wieder bei dem Begriff der Eleganz, die gerade dann entstehen kann, wenn man eine Rolle spielt. Was ist sie denn genau, die Eleganz? Geht es um Gesten, Weisen des Sprechens, Arten, miteinander umzugehen?

Zur Eleganz gehört alles, was wir unternehmen, wenn wir uns von einem unsichtbaren Dritten beobachtet fühlen. Das ist die Minimaldefinition von Eleganz. Die ganze materielle Kultur gehört dazu, die oft auf diese Beobachtung durch einen unsichtbaren Dritten zielt: Haltung, Gesten, Arten der Kleidung, Arten des Sprechens, Geschwindigkeiten der Bewegung. Dann gibt es die Eleganzbedingungen: also alles in der Kultur, das den Anspruch signalisiert, dass die Leute hier ein bisschen besser sein müssen, als sie normalerweise sind — ein bisschen klüger, geselliger, besorgt um das gesellschaftliche Ganze, ein bisschen besorgter um Fragen des Stils.

Was sind die gesellschaftlichen Bedingungen für Eleganz?

Wir sind gewohnt zu denken, dass wir dann am freiesten sind, wenn wir ganz wir selbst sind. Also erleben wir es als Befreiung, wenn wir der Geselligkeit beraubt werden. Gibt es keine öffentlichen Räume mehr, in denen wir elegant auftreten können, dann denken wir: Na, so ein Glück! Jetzt brauche ich mich nicht mehr so gezwungen zu benehmen, sondern kann ganz sein, wie ich bin. Die fatale Folge ist, dass die Leute gar kein Terrain mehr vorfinden, wo sie mal ein bisschen besser sein können, als sie normalerweise sind, und wo sie auch die Gelegenheit haben, als Citoyen zu sprechen und nicht nur als Bourgeois: als gesellschaftliche Bürger, die das Ganze im Blick haben und nicht nur ihre Privatinteressen. Eleganz braucht öffentliche Räume, in denen man sie praktizieren kann. Derzeit konzentriert sie sich auf bestimmte enge Räume bestimmter Metropolen. Deswegen ist man so bemüht, Kunstmuseen und dergleichen zu haben: Die Diskussion um Standortattraktivität ist vor allem eine Frage von Eleganz.

Was wäre so ein Eleganzraum?

Das bürgerliche Kaffeehaus, wie man es in Paris oder Wien findet. Wenn der Kellner im dunklen Anzug die Schale Kaffee auf einem Silbertablett serviert, hat man nicht das Gefühl, man müsse sich jetzt mit irgendeiner Sexmarotte im Fernsehen präsentieren, um irgendeine Öffentlichkeit zu haben. Der Kaffeehausgast ist nicht publicitygeil, weil er hier schon die Publicity durch den unsichtbaren Dritten erleben kann. Das ist eine per­ fekte, nicht künstlerische Eleganzmöglichkeit.

Andrerseits werden ja Fragen des Stils überall verhandelt. Lifestyletexte, Stilkolumnen, die besessene Selbstoptimierung: Wie geht das mit Ihrer These zusammen?

Dass wir ständig studieren müssen, wie wir unser Leben elegant gestalten können und Distinktionsmerkmale anhäufen, um eine Spur schnittiger als unsere Kollegen zu sein, verweist auf die Tatsache, dass Eleganz im allgemeinen Gesellschaftsleben eine knappe Ressource geworden ist. Eine Gesellschaft, die sich um Eleganz weniger Sorgen macht, studiert nicht zwanghaft Lifestylebeilagen. Das ist erst dann notwendig, wenn die Bedingungen von Eleganz gesellschaftlich verloren gegangen sind und die Individuen versuchen, sie individuell wieder herzustellen.

Sie sagen allerdings auch: Wir können die Eleganz gar nicht mehr zurückgewinnen. Weil uns dieses «Als ob», dieses Vorspielen für einen unsichtbaren Dritten, nicht mehr reicht. Wir wollen uns nicht nur schön und elegant fühlen: Wir wollen wirklich schön und elegant sein. Und das sei das Problem.

Je weniger wir in der Lage sind, Rollen zu spielen, desto mehr glauben wir natürlich, dass unsere Schönheit von unserer Naturbeschaffenheit abhängt. Und dann geraten wir in die Panik, alles, was stören könnte zu vermeiden — statt aus verschiedenen Unregelmässigkeiten besonders hervorstechende kultivierte Merkmale zu machen. Weil wir nicht mehr eine öffentliche Rolle spielen, sondern nur noch als private Personen in Erscheinung treten, wird plötzlich die Wahrheit des Körpers so entscheidend und gerät in den Fokus der chirurgischen Optimierung. Und ja: Wir müssen kulturell daran gewöhnt werden, dass man Eleganz üben kann.

Und wenn man dann zu elegant auftritt, heisst es rasch, man sei ein Narzisst.

Dabei widerstrebt wahre Eleganz dem Narzissten, weil er sich in der Vorstellung gefällt, dass alles, was gut und richtig ist, ihm eben auch leicht von der Hand gehen müsste.

Warum halten wir Eleganz nicht mehr für lernbar?

Solange man glaubt, Eleganz hängt an der Natureigenschaft des eigenen Körpers, hält man ihre Abwesenheit für Schicksal. Wenn andere einem vor Augen führen, dass da etwas zu tun ist, kann das Wut hervorrufen. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu, was mit der Privatisierung unter postmodernen und neo­kapitalistischen Bedingungen zu tun hat: Wir haben insgesamt zum Glück des anderen ein aggressives Verhältnis gewonnen.

Ist das ein Grund, weshalb sich Klatschmagazine so gerne mit dem Absturz von Stars beschäftigen?

Genau. Die Diven des Hollywoodfilms, Sophia Loren, Faye Dunaway, haben meiner Generation tatsächlich so etwas wie ideale Muster von mondänem und erotischem Verhalten geliefert. Und: Der Glanz der Diven hat etwas abgeworfen für die Allgemeinheit. Das Glück des anderen galt auch als Glück für mich: Ich brauchte mich diesem Glück nur anzuschliessen und konnte eine Menge davon abbekommen. Heute hingegen, unter den Bedingungen der Privatisierung, erfahren wir das Glück des anderen immer so, als ob es nur eines davon gibt. Wenn der andere es hat, kann ich es nicht haben: So neidisch wird derzeit mit dem Glück des anderen umgegangen. Heute schaut man fasziniert auf die Sternchen, aber immer in der Hoffnung, ein möglichst ab­ stossendes Bild von Glamour zu bekommen, um dann froh zu sein, nichts davon zu haben.

Setzt Eleganz so etwas wie einen Willen zur Gemeinschaftlichkeit voraus?

Ja, wobei ich die Grenze nicht zwischen dem Individuum und der Gruppe ziehen würde, sondern zwischen der Gemeinschaft und der Gesellschaft. Man ist heute durchaus beflissen, einer Gruppe anzugehören, aber vor allem einer identitären Gruppe. In solche Muster fügen wir uns sehr gern und tun auch alles, um diesen Mustern zu entsprechen. Da holen wir uns auf Facebook die Freunde zusammen, die wirklich dieselbe Indie­Band gut finden wie wir. In der Gesellschaft, für Techniken wie Höflichkeit, Eleganz oder Glamour, brauchen wir den unsichtbaren Dritten. Für ihn produzieren wir diesen bestimmten Augenschein, auch wenn wir mit jemandem nichts gemeinsam haben.

Warum ist diese Instanz des unsichtbaren Dritten als Idee befreiend? Es ist ja eine psychische Instanz. Sie sagen: vergleichbar, aber nicht identisch mit dem Über-Ich. Warum ist das kein grosses, repressives: «So macht man es eben, also mach du es jetzt auch so?»

Einfach deswegen, weil das Gegenteil weitaus repressiver ist. Das Gegenteil heisst: Mach es einfach so, wie du willst oder wie du glaubst. Das klingt grossartig und antiautoritär, ist aber eine totale Beraubung. Die Individuen verfügen nicht über die Gesamtheit ihrer Lustbedingungen. Der antiautoritäre Befehl: Mach doch so, wie du willst, das ist, als sage man Leuten, die keine Produktionsmittel haben: Ernähr dich doch einfach von deiner Hände Arbeit. Freud hat in seiner Studie über den Humor bemerkt, dass uns der Humor ermöglicht, dem gebannten Blick des Ich auf die missliche Lage zu entfliehen. Wir können uns selbst aus einer höheren Perspektive liebevoll lächelnd beobachten und sagen: «Na, du kleiner Hamster, jetzt hast du dich wieder vor dem Haufen Arbeit gefürchtet, der da auf dich wartet» oder dergleichen. Das ist vielleicht das Erschreckendste, was man auf kultureller Ebene über unsere Gegenwart sagen kann: dass den Individuen der Humor abhanden kommt.

Sie raten zur Mässigung der Vernunft. Da gibt es dann so etwas wie das erwachsene Erwachsensein oder die elegante Art, elegant zu sein. Es gibt immer diese zweite Ebene, die um sich weiss.

Wenn man unsere Gegenwart mit einem Bild charakterisieren wollte, dann kann man sagen, wir benehmen uns wie altkluge Kinder, die Vernunft darin erblicken, dass sie sich alles versagen, was unvernünftig ist: nichts Ungesundes trinken und essen, die Umwelt schonen, die Sicherheit wahren und so weiter. Das ist aber nicht Erwachsenheit oder Vernunft, sondern nur Altklugheit. Erwachsenheit und Vernunft bestehen eben darin, sich nicht alles zu versagen, sondern sich periodisch manches durch­ aus zu gönnen: ab und an mit Freunden etwas zu trinken, sich ab und an zu verlieben, ab und an charmante Scherze zu machen und nicht nur ernst daherzureden. Vernunft besteht in einem Vorgang der Verdoppelung von Vernunft. Man muss auf ver­ nünftige Weise vernünftig sein. Wenn man immer nur vernünftig ist, dann ist man völlig irrational.

Es klingt, als stimmten Sie in die gerade so modische grosse Post-68-Klage ein.

Das Problem war, dass die alten Eleganzformen von der Elterngeneration, dieser Nach­Nazi­Generation, sehr massiv missbraucht wurden: Man hat damit einfach die brisanten Fragen tot­ geschwiegen. «Darüber spricht man nicht» ist ein sinnvolles Prinzip, wenn es um Intimitäten geht, nicht aber, wenn man politische Fragen verhandelt. Das hat aber ein pauschales Misstrauen nicht nur einer, sondern mehrerer Generationen gegenüber Eleganzformen hervorgerufen, und deswegen sind sie sehr stark bekämpft.

Kann man Eleganz durch Mode fördern, Krawatten, Stiftröcke, all die klassischen Utensilien?

Ich bin überzeugt, dass das eine Frage ist, die zuerst von der Gesellschaft ausgeht und nicht von den Individuen — man kann das nicht durch eigene Gestaltungsanforderungen ersetzen. Wichtig ist, dass man einen gesellschaftlichen Rahmen vorfindet, in dem man sich beobachtet fühlt. Was man dort tut und wie man glaubt, dieser Beobachtung am besten zu entsprechen, das kann sich historisch stark verändern. Aber das Wichtige ist, dass die Individuen eine Bühne vorfinden. Sonst kostümieren sie sich im Zuschauerraum.

Was für einen Blick der anderen braucht es denn, um einen in die Eleganz zu treiben? Reicht ein starrender, überwachender auch?

Es braucht schon einen Blick, der darauf aus ist, vom anderen amüsiert, beglückt zu werden. In der Antike haben die Menschen das Gefühl gehabt, ihre Götter schauten ihnen so zu. Es muss ein Blick sein, der sagt: Na, was zeigst du mir, um mich zu erfreuen? Nicht einer, der fragt: Entsprichst du auch meinen Normen?

Ihre Argumentation für die Eleganz ist auch: Man hat mehr Vergnügen so.

Das stimmt. Ich glaube auch, die Art, wie wir diese Rollen spielen, erlaubt uns sehr viel mehr Individualität und Erleben von Eigenem als die Fixierung auf das eigene Ich. Da entzieht sich dieses Ich nur und bleibt ein ständiges Rätsel. Die Gruppe Schmetterlinge hat noch in den Siebzigerjahren in Österreich gesungen: «Schönheit, du musst kämpfen.» (Lacht) Das ist heute wieder wahr.

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