NZZ, Gesellschaft, 10. Oktober 2015

NZZ, Gesellschaft, 10. Oktober 2015

Kleider müssen keine Geschichten erzählen, sondern sollen sich danach richten, wie wir leben, arbeiten und uns bewegen. Es braucht einen neuen Blick auf die Mode.

Es ist ein apartes Zusammentreffen: Gerade wurden auf den internationalen Modenschauen die Kollektionen für den nächsten Sommer gezeigt, und genau dazu ruft Li Edelkoort das Ende der Mode aus. «Anti-Fashion, a Manifesto» heisst das Papier, das die niederländische Trendforscherin schon im letzten Winter verfasst und seither in ihren saisonalen Trend-Talks vorgestellt hat. Die zentrale These: Es gibt die Mode nicht mehr.

Das Manifest ist bemerkenswert – nicht so sehr, weil die Thesen überraschen. Wer auf die Mode als System schaut, sieht es ja. Die Mode ist so beschleunigt, dass es «in der Mode sein» gar nicht mehr gibt: als saisonal wechselnde Form, für alle verbindlich, irgendwie dem Zeitgeist abgelauscht. Stattdessen sind die Zyklen durch Zwischenkollektionen beschleunigt, Designer machen mindestens acht Kollektionen im Jahr, nicht mehr zwei. Die letzte Saison wird als Second Season verkauft – neben dem Neuen, dem neuesten Neuen, neben Vintage und zunehmend auch Secondhand. «Alles geht», dieser Leitsatz der frühen Postmoderne ist in der Mode erst jetzt wirklich angekommen. Bemerkenswert ist, dass eine der renommiertesten Trendforscherinnen ihren Kunden sagt: Die Kulisse steht noch, aber die Protagonistin ist tot. Jetzt ist es nicht mehr ignorierbar.

Nur – was macht man damit?

«Kleider», sagt Li Edelkoort.

Li Edelkoort ist recht zornig – nicht bitter, aber aufgebracht. Über das, was heute das Modesystem bestimmt: die Shareholder-Perspektive auf die Kollektionen. Der Einfluss des Marketings auf das Design. Die Billigproduktion: «Wer ein T-Shirt für unter 10 Euro kauft, bringt andere in Gefahr», oder auf ihrem Trendvortrag noch deutlicher: Billigmode sei problematischer als Fell, weil sie Menschen töte. Die Kultur der Mode sei verloren gegangen, Kleider würden benutzt und entsorgt, «wie ein Kondom». Li Edelkoort hat Modedesign studiert, sie kennt die Thierry-Mugler-Schauen noch, die 45 Minuten gedauert haben, «fashion» ist für sie die «revolutionäre Vision einer eigenwilligen Schönheit», eine radikal neue Silhouette, die verändert, wie man sich bewegt, wie man steht, und am besten auch, wie man in der Welt ist. Li Edelkoort hat seit Azzedine Alaia keine neue Silhouette mehr gesehen.

Deswegen spricht sie jetzt von Kleidung – angezogen ist man ja noch. Aber wie? «Kleider» ist konkreter als Mode, hier sind grundlegender die Genres gemeint: Hosen, Pullover, Röcke. Schaut man die Kollektionsbilder des nächsten Sommers mit diesem Genre-Blick durch, wird klar: Dort, wo an den Grundelementen der Garderobe gearbeitet wird, geschieht gerade etwas.

Das Pariser Designkollektiv Vetements etwa macht Kleider, die realen Trageweisen auf der Strasse abgeschaut sind. Die Entwürfe sehen so aus, wie man sich darin fühlt – daraus ergibt sich ihre Proportion. Übergrosse Mäntel, in denen man versinkt wie in der Umarmung eines Riesen (oder, kleiner gedacht, eines Elternteils). Schürzen, die für den Mann zu Kleidern werden. Überweite Schultern, die extra nach vorn fallen, was den Rücken betont, vor allem im Tragegefühl. So gelingt es, dass wuchtige Kombinationen mit gigantischen Volumen, die einer Arbeitsuniform entlehnt sind, doch die ferne Anmutung eines Kostüms haben. All das mag sehr an Martin Margiela geschult sein, in dessen Designteam die Vetements waren. In der Wirkung ist es sehr modern, also: gegenwärtig. Und nebenbei entstehen neue Silhouetten.

A wardrobe, könnte man die Konzentration auf Kleidung beschreiben, auf das, was man wirklich anzieht. Nicht missverstehen: Die Entwürfe sind nicht harmlos, pragmatisch, dürr. Es geht mehr um die Konstruktion und gleichzeitig mehr um das Konzeptuelle dahinter. Derzeit ist es ja so: Die Mode und die Realität haben wenig miteinander zu tun. Auf den Schauen sind statement pieces zu sehen, die es nie in die Produktion schaffen. Und auf der Strasse schlecht gemachter Pragmatismus.

Garderobe bedeutet, dass sich die Mode mit realer Existenz verbindet, indem sie schaut, wie Leute eigentlich leben, arbeiten und sich bewegen. Coco Chanel hat das Zeitgeist genannt, «capter l’air du temps». Es ist eine Methode, die in ihrer Autobiografie plastisch in einem Crash beschrieben ist: «Ich betrachte eine junge Frau auf dem Fahrrad, die Tasche hat sie umgehängt, eine Hand keusch auf den Knien, die auf und nieder gehen, der Stoff klebt am Bauch und an der Brust, und der Fahrtwind hat das Kleid hochgeweht. Diese junge Frau hat sich ihre eigene Mode geschaffen.» Chanel betrachtet sie so versunken, dass es zum Zusammenstoss kommt: «Sie brüllt mich an, hat ja recht: ‹Wo haben Sie denn bloss hingeschaut?› – ‹Ich betrachte Sie, Madame, um mich zu vergewissern, dass ich noch nicht aus der Mode bin.›»

Christian Dior hat die neue Linie diktiert, Chanel hat sie aus ihrer Zeit heraus entwickelt. Das Prinzip Chanel hat eine neue Aktualität – auch, wenn es sich nicht auf eine einzige Linie bringen lassen wird. Die Frage ist ja: Will sich jemand im 21. Jahrhundert die Silhouette diktieren lassen? Nein. Die israelische Soziologin Eva Illouz hat einmal am Rand eines Interviews gesagt, sie würde Kleider lieben, allerdings hätte sie überhaupt keinen Sinn für Mode. «Ich vermute, ich habe den Sinn nie gesehen: Jemand anders diktiert mir, was mir gefallen soll? Das ist doch ein Scherz.»

Aber irgendeiner macht auch diese Kleider. Darin liegt ja die wirkliche Sprengkraft des Anti-Fashion-Manifests. Es prognostiziert nicht nur das Comeback der Couture, sondern auch – wieder – den Verkauf von Schnittmustern. Das wäre tatsächlich eine radikale Neuordnung der Industrie. Oder eine Utopie?

Die Showroom-Präsentation von Comme des Garçons war eine strenge, schöne Kleiderstudie, die nach neuen Ärmelformen suchte, aus dem spitzen Schulterabschluss herausgeschnitten. Genauso die ersten acht Looks von Yoshi Yamamotos Defilee, schwarze, asymmetrische Kleider, mit Knoten zu schliessen. Dries van Noten hat eine Poetik des Auftritts gezeigt. Sie funktioniert bei ihm rein über die Grundelemente der Mode, alle Dramatik liegt im Kleid – in Farben, Linien und einer punktgenau gesetzten Referenz.

Der krasseste Rücksprung war bei Gucci zu sehen, inklusive der Tendenz zum Vermischen der Geschlechter. Die Parallele zu den Männerschauen war immens – nicht nur der kastig-grossen Siebziger-Jahre-Brillen wegen: transparente Seidenblusen, fliederfarbene Spitzenshorts. Nach der Schau sagte der Chefdesigner: «Es ist die Illusion von Vintage. Ich bin nicht nostalgisch!» Kurz darauf fing die Kamera Nan Goldin mit einem Kommentar ein: «Das sind genau die Kleider, die ich damals in der Hippie-Kommune getragen habe.»
Und wofür steht das? Wenn heute etwas passé wirkt, sind es die gängigen Interpretationen der Mode. Wenn es «die Mode» nicht mehr gibt, wie spricht man dann über sie? Anders als bisher. Ohne den Reflex, Modetrends zu lesen – als unmittelbaren Spiegel der gesellschaftlichen Verfasstheit, als Aussage über die Frau oder als Statement der «Persönlichkeit». In einem von Marketing getriebenen, superbeschleunigten Szenario fängt die Mode keinen Zeitgeist ein. Kleider erzählen einem etwas, aber nicht in der faden Symbolisierungslogik, aus der wir so schwer herauskommen.

Plötzlich wirken nicht nur Outfits, sondern auch Begriffe alt: Storytelling etwa. Ist es nicht merkwürdig, dass die Existenz selbst ein so rares Gut geworden ist, dass man ihr mit Narrationen auf die Spur kommen muss? Dabei hat man selbst eine, was mitunter vergessen geht. «Unsere Kleider müssen keine Geschichten erzählen, die Vetements-Frau hat ihre eigene Geschichte», heisst es bei Vetements (deren Gründer Demna Gvasalia gerade zum neuen Balenciaga-Chefdesigner berufen wurde, was eine Art Zertifikat des Neuen ist). Das macht ja das Angewandte der Mode aus – sie will nicht der Realität entfliehen, sondern sich stabiler in ihr verankern.

In diesem Szenario über Mode zu schreiben, das wird mir gerade klar, ist eine fabelhafte Aufgabe, weil es subjektiver sein darf, ja: muss. Wenn der Auftrag nicht mehr ist, das wiederzugeben, was einem das Designhaus als Inspiration ins Notizblöckchen diktiert. Stattdessen sucht man nach den Fragmenten einer neuen Gestaltungsidee. Und dann übersetzt man die heute für sich selbst.

Man muss diese Kleider anders anschauen lernen. Man schaut sie an wie ein Gestalter. Der Blogger «The Sartorialist» hat diesen genauen Blick schon eine Weile. Notiz vom University Place: «Gestern Abend, als ich nach Hause lief, sah ich diese junge Frau vor mir laufen, und ich konnte nicht erkennen, ob der Saum ihres (typisch jungenhaften) nach aussen gewendeten, eingelaufenen Shirts eine absichtlich gebogene Kante war oder einfach die Wirkung eines verdrehten Saums. Ob es ein absichtliches Detail war oder nicht, mir gefiel der Effekt. Es gab dem Sweatshirt eine neue feminine Anmutung.»

Genau deshalb gibt es die Mode wieder. Mode ist Kleidung, die einer Gestaltungsidee folgt – einer eigenen oder der eines Designers. Was zählt, ist die eigene Setzung. Es gibt einen grandiosen englischen Satz dafür: «Dress like you mean it.» Und wenn dann gefragt wird, aus Gewohnheit: «Trägt man das jetzt so?», muss die Antwort sein: «Ich schon.» Es ist das Einzige, was sich mit Sicherheit darüber sagen lässt.