Mode? Dafür bin ich zu individuell

NZZ, Gesellschaft, 2.2.2018

Neu, neu, neu – das war das Versprechen der Mode. Nun sieht eine der interessantesten Kollektionen für den Frühling aus wie schon Bekanntes.
Ein Plädoyer für die Lust, wieder so auszusehen wie die anderen.

Der nächste Frühling lässt sich auf eine kurze Formel bringen: Es kommt, was ist. Wirklich, die wohl interessanteste Kollektion für das Frühjahr sieht aus wie das, was jetzt schon getragen wird – mit Absicht. Entworfen hat sie Demna Gvasalia, Chefdesigner von Vetements, dem ehemals Pariser Label, das vor knapp einem Jahr nach Zürich gezogen ist, in «die vermutlich langweiligste Stadt Europas», wie Gvasalia böse-provokant in einem Interview sagte. Seine Kollektion wurde nicht an einer Show gezeigt, wie sonst üblich, sondern in Zürich auf der Strasse fotografiert. Die Bilder sehen aus, als seien die Models gerade zufällig gecastet worden: Sie kommen vom Lebensmitteleinkauf oder gehen mit ihrem Kind spazieren. Sie tragen zwar die neue Vetements-Kollektion, aber die wirkt so, als hätten die Models ihre eigenen Kleider an. Man sieht weder, dass dies eine Kollektion ist, ein irgendwie zusammenhängendes Ganzes. Noch, dass sie neu ist.

Die neue Mode kommt nicht, sie ist schon da: Das ist das bestmögliche Statement zur Lage der Mode. Die «neuen Kollektionen» sind nicht anders genug, um wirklich neu zu sein. Es gibt zu viele Formen und Stile gleichzeitig, von Second Season über Second Hand bis Vintage, als dass man noch von «der Mode» sprechen könnte. Wenn sich aber die neue Kollektion von dem, was auf der Strasse bereits getragen wird, nicht mehr unterscheidet: Dann schliesst sich der Kreis von «trickle down» und «bottom up», vom Sichtbarwerden der aktuellen Designentwürfe auf der Strasse und der Inspiration der Designer durch die Strasse. Genau das wird jetzt zum Statement – in den Entwürfen selbst.

Das ist bemerkenswert, weil die Mode eigentlich darauf angewiesen ist zu sagen: neu, neu, neu. Was wäre sonst ihr Versprechen? Genau das ist jetzt die Frage: Was ist das Versprechen der Mode? Den Zeitgeist spiegeln kann sie jedenfalls nicht mehr. Dafür müsste man auf der Strasse sehen können, dass Anfang 2018 ist. Anhand des Strassenbilds, in Meetings, Konferenzräumen, Kinosälen, Unterrichtszimmern, auf Wochenmärkten oder in Trams. Man sieht es aber nicht. Hinweise gibt es natürlich, Sprengsel. Es gibt noch Trends, meist in Form von Trageweisen oder Stylingthemen, die eher lokal sichtbar sind. «Die Mode» aber, dieses grosse «Trägt man das jetzt so?», eine konkrete Erscheinungsform, die lanciert wird, sich durchsetzt, schliesslich überall ist und dann wieder verschwindet – diese «Mode» gibt es nicht mehr. Genau so lässt sich die Vetements-Kollektion verstehen. Sie sagt: «Wir brauchen nichts vorgeblich Neues mehr auf den Markt zu bringen. It’s over.»

Lapidar gesagt: Niemand will heute mehr so sein wie die anderen. Und genau das ist das Problem.

Gut so. Wir brauchen ohnehin einen neuen Modebegriff. Andere Zyklen, eine andere Dauer, weniger Trash. Nur: Wie könnte der neue Modebegriff aussehen? Und was genau ist eigentlich vorbei? Es gibt heute eine Position, die sich schwer einnehmen lässt: die Position des Allgemeinen. Das beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz in seinem jüngsten Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten». Er analysiert darin einen gesellschaftlichen Strukturwandel von der «Logik des Allgemeinen» hin zur «Logik des Besonderen», den er für die Spätmoderne als charakteristisch erachtet. Das Besondere, das Einzigartige, das Singuläre, schreibt Reckwitz, werde zur Norm.

Die Norm der Einzigartigkeit erklärt gut, warum wir die anderen zunehmend als Lifestyle-Figuren begreifen, als Darsteller. Davon zeugt die Boshaftigkeit gegenüber sogenannten Hipstern, die ja nichts anderes tun, als das Gängige zu überspitzen. Diese Norm erklärt auch, warum das Neue im Kulturkapitalismus nicht substanziell neu ist, sondern additiv funktioniert, als Zusatz zu etwas, das man schon kennt: «same same, but different». Flimmernder Stillstand. Der Mode sind quasi ihre eigenen Bedingungen abhandengekommen. Lapidar gesagt: Niemand will heute mehr so sein wie die anderen.

Genau das ist das Problem. Die Mode setzt die Lust voraus, etwas mit den anderen gemeinsam zu haben, den Zeitgeist zu verkörpern. Das ist nur möglich, wenn der Zeitgeist irgendein Versprechen bereithält, Modernität zum Beispiel, wie in den zwanziger Jahren. Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre soll die Mode aber vor allem eines: von der Individualität der Trägerin erzählen.

Mit der Individualität in der Mode ist es aber so: Sie lässt sich nicht ausdrücken durch die Mode, sondern sie drückt sich in der Mode aus. Das kann man verstärken. Man kann wissen, was einem gefällt, und wissen, warum. Was einen interessiert an den Kleidern, die man trägt. Denn irgendetwas motiviert einen ja morgens vor dem Spiegel. Es kann eine stilistische Vorliebe sein oder ein ästhetisches Spiel, ein Gegeneinandersetzen von Farben und Materialitäten. Es kann die Silhouette sein, die Frage, wo der Stoff am Körper zusammenkommt, wo der Schwerpunkt ist. Wie man sich in einem Kleidungsstück bewegt und ob der Stoff die Bewegung mitmacht oder verhindert. Ein schwerer Mantel macht eine andere Haltung als ein zittriges Chiffonteil. Die eigene Weise, sich anzuziehen, kann konzeptuell sein; sie kann eine Vorliebe fürs Verhüllen oder fürs Exponieren offenbaren, fürs Auffallen oder fürs «Greymousing» – oder für das grellstmögliche Unterlaufen von Codes. Aber irgendetwas zentriert diese Entscheidungen immer. Wir kleiden uns alle.

Aber eben: Wie?

Die Designerin Vivienne Westwood hat einmal gesagt, sie verabscheue kleine Krawattenknoten. Erstens, meint sie, sehe der Kopf darüber aus «wie ein Lolli, kurz davor, verschluckt zu werden». Zweitens hält sie kleine Knoten «für das Zeichen eines kleinlichen und knickrigen Geistes». Westwoods Blick ist aufschlussreich: Sie sieht eine schmale Krawatte mit dem kleinen, engen Knoten, darüber einen gehorsam beengten Hals und über all dem einen Kopf, der an der Enge kein Vergnügen haben kann, was dem Träger aber offenbar egal ist. Ihr Blick illustriert gut, wie Designer Mode anschauen. Sie sehen ein Zusammenspiel von einem konkreten Kleid mit einem konkreten Körper. Mode ist ein ästhetisches Spiel, eine Frage von Proportionen: Das Design macht etwas mit dem Körper, und das ergibt eine Sprache. So befragen Designer ihre Entwürfe: Ist da etwas Interessantes? Und wenn ja, was ist interessant daran?

Jetzt, wo einem keiner mehr sagt: «Das trägt man jetzt so!», können sich das alle selber fragen. Oder besser: Sie müssen das. Was interessiert mich daran? Die Mode ist ja nicht verschwunden. Die Mode, in der Minimaldefinition, die jetzt gilt, ist Kleidung mit ästhetischem Anspruch. Mode ist die Umgebung, die man für sich selbst schafft. Das ist im Moment ihr grösstes Versprechen. Es ist ein guter Moment, darin versierter zu werden. Spielerischer, leichter, weniger feige. Im besten Fall schafft man sich eine Umgebung, in der man selber passend ist.

Beim Gerede um Individualität in der Mode wird gern vergessen: Es geht nicht nur um Kleidung, sondern um Kleidung plus Person. Wenn zwei den gleichen Mantel tragen, dann werden die Unterschiede zwischen beiden prägnanter. Der Blick wird auf das Einzigartige gelenkt: wie sich einer bewegt. Ob von einer etwas Helles ausgeht oder etwas Dunkles. Ob jemand den Raum einnimmt, wenn er ihn betritt, und ob man ihm dieses Einnehmen glaubt. Wie eine ihren Mantel auszieht. Wie einer sein Erzählen mit Gestik begleitet. Wie eine schaut – und ob das Gesehene in ihren Augen widerscheint, mit Humor, als Kommentar zu Welt. Kurzum: Es geht darum, ob jemand zu Hause ist in seinem Körper. Ob man ihm die Kleidung glaubt oder sie für Maskerade hält.

Egal, was mit dem Modebegriff passiert: Das Allgemeine war und wäre eine gute Basis. Wenn wir wieder Lust entwickeln könnten auf die Zeitgenossenschaft mit den anderen, darauf, so auszusehen wie sie – das wäre doch etwas. Wenn niemand angestrengt auf das Individuelle zielt, dann könnte etwas schön Eigenes dabei herauskommen.