Die innere Provinz

NZZ, Gesellschaft, 29.1.2016

Wir leben in schamlosen Zeiten? Nein. Es gibt in der individualistischen Gesellschaft erstaunlich viel, das beschämt. Sogar wer darüber forscht, sieht sich von Scham überwältigt.

Brené Brown hat eine sichere Methode, Smalltalk in der Businessklasse auf ein Minimum zu begrenzen. Es liegt an ihrem Beruf, dass die Unterhaltung in der Regel mit der zweiten Frage erstirbt. «Forscherin, wie interessant, und worüber forschen Sie?» – «Über Scham.» Worauf die Sitznachbarn oft sehr müde werden – sehr, sehr müde.

Dass wir über Scham nicht sprechen wollen, ist deshalb ein Problem, weil sie mehr wird, je weniger man über sie spricht. Scham, meint Brown, brauche drei Zutaten, um sich quasi exponentiell zu vermehren: Heimlichkeit, Schweigen und Bewertung. Scham, sagt sie, sei die «stille Epidemie unserer Kultur». Was man ja erst einmal anzweifeln kann.

Zum einen hat Brown, die an der Universität von Houston Sozialwissenschaften lehrt, in den letzten sechs Jahren drei Bücher über Scham geschrieben, die alle auf Platz eins der «New York Times»- Bestsellerliste standen. So still ist die Epidemie nicht mehr. Vor allem aber: Könnte man nicht ebenso gut sagen, die laute Epidemie unserer Kultur sei die Selbstdarstellung? Das passiert ja auch. Es wird «Schamverlust» konstatiert, mit Hinweis auf alle möglichen Formen körperlicher und emotionaler Entblössung, von Selbstbefriedigungs-Bildbänden bis zum Reality-Fernsehen. «Scham fristet in hochmodernen Gesellschaften ein Schattendasein», schreibt die Historikerin Ute Frevert 2013 in «Vergängliche Gefühle».

Die Frage ist, welche Scham? Scham ist ja immer beides, Biologie und Prägung. Eine grundlegende Emotion, deren Neurobiologie man gerade zu erforschen beginnt. Und ein soziales Konstrukt: weil das, wofür man sich schämt, zutiefst kulturell ist. Die konkreten Bezüge und Objekte der Gefühle verändern sich über die Zeit. Frevert beschreibt, wie die moralische Scham im 20. Jahrhundert von der sozialen Scham überlagert wird. Mit der Historizität der Gefühle ist aber noch etwas anderes gemeint. Wie Menschen «ihre Gefühle äussern, wirkt wiederum auf das Gefühlte selbst zurück», so Frevert. Das heisst: Die Gefühle fühlen sich auch anders an.

Doch die Scham verschwindet ja nicht einfach. In der Psychologie spricht man seit den neunziger Jahren von narzisstischer Scham, die zunehmend das Innenleben bestimme. Der Psychologe Michael Lewis definiert in «Shame – The Exposed Self» Scham als die fundamentale menschliche Emotion: «Sie prägt alle unsere Gefühle gegenüber uns selbst und unseren gesamten Umgang mit anderen.» Moralische Scham ist an klare Verhaltensregeln und Normen gebunden, «narzisstische Scham» wird in individualistischen Gesellschaften zum Problem. Wenn das Ich im Zentrum steht, bin auch ich schuld. Scham, heisst es, sei ein heimliches, weil verbotenes Gefühl, narzisstische Scham die Mischung aus Scheiternsangst und Grandiositätsverlangen, dem dauernden Wunsch, das Exzeptionelle zu suchen. Scham ist hier eine inakzeptable Position. Beschämbar zu sein, ist das No-Go der Spätmoderne.

Ah, die klaren Definitionen. So übersichtlich, so geordnet, so ganz anders als die Sache selbst.

Brené Brown ist mit der Unordentlichkeit der Scham vertraut, was zunächst mit ihrer Methode «grounded theory» zu tun hat. Sie führt qualitative Interviews, ohne vorher die Forschungsliteratur zur Kenntnis zu nehmen. Die eigene Theorie wird aus der «gelebten Erfahrung» der Interviewten entwickelt. Browns Forschungsergebnisse haben vor acht Jahren dazu geführt, dass sie ihre gesammelten Interviews in eine Kiste tat und sich eine Auszeit und eine Therapeutin nahm.

Das Problem waren die «wholehearted», wie Brown sie nannte: eine kleine, aber signifikante Gruppe von Menschen, die auf bemerkenswert unverschanzte Weise am Leben waren. Sie empfanden nicht weniger Scham als andere, aber sie gingen anders mit ihr um. Was Brown über sie herausfand, klingt fast tautologisch: «Männer und Frauen, die ein starkes Gefühl von Zugehörigkeit haben, glauben daran, dass sie Liebe und Zugehörigkeit verdient haben.» Dank bestimmten Verhaltensweisen und Praktiken gehen sie gelassener mit dem eigenen Selbstideal um, sie orientieren sich nicht an dem, was die anderen über sie denken könnten, sie spielen mehr, sie maskieren ihre eigene Verletzbarkeit nicht – und sind genau deswegen resilienter. Anders Brown. Sie sagt selbstironisch über sich, zwei der Praktiken gehörten vage in ihr eigenes privates Repertoire. Den Rest hat sie bisher belächelt.

Über die zehn Praktiken schrieb sie ein Buch, «The Gifts of Imperfection», und die Geschichte mit ihrem Zusam- menbruch hat sie später in einem Tedx-Talk erzählt. Der Vortrag ging online, aus knapp 500 Zuhörern wurden in kurzer Zeit ein paar Millionen. Brené Brown hat das in eine Rolle katapultiert, die ihre Arbeit relevant macht: eine Akademikerin, die den eigenen Forschungsgegenstand nicht auf Armeslänge entfernt hält. Nicht immer freiwillig: «Hätte ich in diesem Moment kontrollieren können, wie viel von mir an die Öffentlichkeit geht, wäre meine Karriere genau da zu Ende gewesen.» Da waren die Online-Kommentare, von denen sich wenige auf ihre Argumentation und viele auf ihre Erscheinung bezogen: «Weniger Forschung, mehr Botox» oder «Wenn man so aussieht, bleibt einem auch nichts anderes übrig, als sich für Verletzlichkeit zu entscheiden.»

Die Kommentare sind eine schöne Illustration. Dafür, dass einen nichts effektiver zum Schweigen bringt als Scham. Dass die Auslöser von Scham tendenziell noch immer nach Geschlechtern unterschieden sind. Für Frauen: Körper, Muttersein. Für Männer: Schwäche. Und dass die individualistische spätmoderne Gesellschaft, die so frei ist wie noch nie, wenn man die Lebensentwürfe anschaut, für die man sich entscheiden kann, in ihrem Kern von einer gnadenlosen Enge ist. Weil es eine Gesellschaft ist, die noch immer sagt: «Dafür aber wirklich: Schäm dich!» Und wenn man darüber nachdenkt, wofür man sich heute zu schämen hat und wie schnell man einander aburteilt, dann glaubt man Browns Aussagen über die Epidemie.

Brown sagt, eines der grössten Missverständnisse sei, dass Scham Moral garantiere. Schuldempfinden führt dazu, dass man sein Verhalten ändert, weil sich Schuld eben auf das eigene Verhalten bezieht, auf dessen Diskrepanz zu den eigenen Werten. Scham bezieht sich auf das eigene Selbst. Scham ist die Empfindung persönlicher Defizienz, Wertlosigkeit, Fehlerhaftigkeit. Letztlich, sagt Brown, habe Scham immer mit der Angst vor Zugehörigkeitsverlust zu tun. Wie man den Unterschied herausfindet? Indem man beobachtet, wie einer mit sich selber spricht. Schuld: Ich habe einen Fehler gemacht. Scham: Ich bin der Fehler. Scham, im Extremfall, ist das Gefühl, dass nichts mehr zu retten sei, wenn die anderen einem auf die Schliche kommen.

Ist das nicht merkwürdig? Wenn die postmoderne Gesellschaft eines auszeichnet, dann ist es doch die Fähigkeit zur Distanznahme. Wir sind unglaublich versiert in kulturellen Lesarten, zu wissen, was die eigene Position über einen selber sagt. Was allerdings auch bedeutet: Wir sind extrem gut darin, uns von aussen anzusehen. Genau diesen Aussenblick braucht es für die Scham, sie ist immer die Perspektive des vorgestellten Anderen. Man schafft sich eine innere Provinz und zurrt sich selber fest.

Wie das geht, legt Brown in all der Kleinteiligkeit offen, mit der Scham heute im Leben der Einzelnen auftaucht. Was überhaupt nicht überrascht, sind die Themen. Der Körper. Sex. Bankrott gehen. Internet-Pornografie. Altern. Scham isoliert, weil alle glauben, sie seien mit ihrem Makel die Einzigen. Scham choreografiert Existenzen. Scham verzerrt die eigene Perspektive – weil das, was man an sich selbst für unverzeihlich hält, bei anderen in der Regel verzeihlich ist. Oder gar nicht der Rede wert.

Darüber hinaus beschreibt Brown die gängigen Abwehrstrategien so nuanciert, dass sie einem überall entgegenspringen. Allen voran die Beschämung als Unterhaltungs-Format – weil das Beschämen anderer ein bequemer Grusel ist, mit dem man das hässliche Gefühl von sich selbst fernhält. Die Beschämung anderer schliesst Lästern ein und Shitstorms auch. Genau hier, in der Vernetzung, liegt auch ein Grund, warum Scham heute überhaupt so krass wirken kann.Weil man sich im Netz einem unüberschaubaren Publikum aussetzt, das dank der Kommentarfunktion zurückspricht – bloss nicht zu einem, sondern über einen. Und weil es unendliche Einblicke in das fotofein gemachte Leben anderer gibt.

Brené Brown nennt das «Kultur des Mangels». Das Problem ist nicht, dass zu viele Leute mit Grandiositätsphantasien unterwegs sind, sondern dass sich die meisten mit ihrer Existenz im Minus fühlen. Nicht erfolgreich genug, um relevant zu sein; nicht schön genug, um zu zählen. Es reicht nie, das ist das Problem. Die Angst vor der gewöhnlichen, der unspektakulären Existenz: Das wäre dann die kulturelle Matrix der Scham.

Jetzt kann man sagen, dass die Kultur des Mangels in der Logik des Kapitalismus liegt. Stimmt ja auch. „Wenn – dann“, das ist die ewige kleine Lücke zwischen der Gegenwart und dem idealen Später. Nur – die Sache mit der Scham ist unbequemer als grossangelegte Gesellschaftskritik. Weil man Scham, egal wie kulturell formiert sie sein mag, immer auch im Direktkontakt lösen muss. Man kann sich nicht gegen Scham entscheiden. Man kann Scham nur vermeiden. Aber dann hält man sich bloss in den lauen Randzonen des eigenen Lebens auf.