“Die Selbstverwirklichung muss nach Aussen dargestellt werden”

Interview mit Andreas Recksitz, NZZ, Gesellschaft, 2.3.2018

Eine wachsende Mittelschicht wolle sich heute im Lebensstil unterscheiden, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz. Was soll dieses neue Ideal der Einzigartigkeit?

Soziologen gelingt im besten Fall, was Andreas Reckwitz in seinem neuen Buch schafft: Er verbindet auf bestechende Weise eine hoch abstrakte These mit konkreten Beobachtungen. Reckwitz beschreibt in «Die Gesellschaft der Singularitäten» einen gesellschaftlichen Strukturwandel von der «Logik des Allgemeinen» hin zur «Logik des Besonderen». Die Singularität wird zum leitenden Muster, die Abweichung zur Norm. Das, schreibt Reckwitz, sei besonders im Lebensstil der neuen akademischen Mittelklasse sichtbar, der zum Ideal werde. Dort werden alle Aspekte des Lebens, das Wohnen, das Essen, das Reisen, unter dem Aspekt der Besonderheit ausgewählt – und performt.

Wende ich Ihren Begriff der Singularisierung auf all die möglichen Lebensstil-Entscheidungen an, sehe ich nicht expressive Selbstverwirklichung, sondern mühevolle Arbeit an der Einzigartigkeit, quasi: Klimmzüge des Besondersseins. Was sehen Sie?

Es geht mir nicht darum, das zu verdammen. Einige Leser haben meine Untersuchung der neuen akademischen Mittelklasse als entlarvende Darstellung gelesen. Andere sagen, ich würde diese glorifizieren. Ich bin immer wieder überrascht! Was ich mache, ist eine nüchterne Strukturanalyse.

Was macht den Strukturwandel genau aus? Warum ziehen wir das Besondere dem Allgemeinen vor?

Anfang der siebziger Jahre gab es im Westen eine Sättigungskrise in Bezug auf funktionale Güter: Jeder Haushalt hatte einen Kühlschrank oder ein Auto. Seitdem wurden die kulturellen Güter wichtiger, bei denen Affekte, Erlebnis und Identifikation eine grosse Rolle spielen. Das sind Wachstumsmärkte, die sich im kulturellen Kapitalismus nahezu unbegrenzt ausdehnen lassen. Die Transformation vom industriellen zum kulturellen Kapitalismus ist einer von drei Wandlungsfaktoren, die sich miteinander verzahnen.

Kulturkapitalismus heisst: Die Dinge werden mit Bedeutung aufgeladen, die über ihren Nutzen hinausgeht?

Genau. Der zweite Faktor der Singularisierung ist ein Wertewandel. In den fünfziger und sechziger Jahren dominierten sogenannte Pflichtwerte und Akzeptanzwerte. Kurz: Es ging darum, so zu sein wie die anderen. Seit den siebziger Jahren werden Selbsterfüllung und Selbstverwirklichung immer wichtiger. Da spielt 68 eine Rolle, aber auch die lange historische Tradition der Romantik. Dass wir ein individuelles Ich haben und nach Authentizität streben sollen, haben uns die Romantiker nahegelegt. Wenn Sie solche Werte haben, wird das Singuläre wichtig, weil man meint, sich über besondere Ereignisse, Orte, Dinge als besonderes Ich verwirklichen zu können.

Sie beschreiben dieses Ideal des Authentischen mit Blick auf Woodstock als kalifornisches Modell: Der Selbstverwirklichungsgedanke sei quasi das «gesunkene Kulturgut» der 68er. Und was ist der dritte Faktor?

Das Stichwort Kalifornien passt auch zum dritten Faktor: Digitalisierung. Die Digitalisierung fördert die Singularisierung. Data-Tracking ermöglicht, den einzelnen Konsumenten zu adressieren. Vor allem aber ist das Internet ein Sichtbarkeitsmarkt in einer Radikalität, wie sie vorher nie da war. Man könnte sagen: Das Internet trainiert einen auf das Singuläre hin. Instagram ist ein sehr gutes Beispiel, das Private wird öffentlich gemacht, es geht immer um eine Zertifizierung von Besonderheit.

Man «besondert» sich, wie Sie es formulieren, und die anderen schauen einem zu. Sie beschreiben die «erfolgreiche Selbstverwirklichung» als widersprüchlich. Können Sie das erklären?

Das Muster der erfolgreichen Selbstverwirklichung hat eine paradoxe Struktur. Das spätmoderne Subjekt kombiniert zwei Orientierungen miteinander – eine Innenorientierung und eine Aussenorientierung. Einerseits will man sich selbst entfalten, was sicherlich auch ein Freiheitsmodell bedeutet. Dort ist es egal, was die anderen sagen. Andererseits muss die Selbstverwirklichung nach aussen dargestellt werden. Dort kommen soziale Erwartungen dazu. Das Statusinteresse der neuen Mittelklasse ist ja nicht verschwunden. Man will sich selbst entfalten und erfolgreich sein. Idealerweise passen diese zwei Ebenen zueinander. Sie können das Subjekt aber auch in zwei verschiedene Richtungen treiben. Das macht die Problematik, aber auch die Dynamik aus. Es hält das Subjekt am Laufen, weil es zwischen diesen zwei Richtungen pendelt.

Früher sicherte die Aussenorientierung, normal zu sein. Heute sind die anderen als Publikum wichtig, weil sie einen selbst als besonders zertifizieren.

Die Form der Beobachtung des looking-glass self ist für das Soziale überhaupt kennzeichnend, also: Ich beobachte, wie die anderen mich beobachten. Aber jetzt sind die Kriterien eben andere. Ich muss Besonderheiten produzieren – aber nicht irgendwelche, sondern solche, die als wertvoll zertifiziert werden. Das ist die spezifische Konstellation in der Spätmoderne: dieser Blick von aussen, der die Besonderheit erwartet. Allerdings verändert sich ständig, was als interessant zählt und was nicht. Diese Unberechenbarkeit ist schwieriger zu bewältigen.

Buddhismus oder Protestantismus, Pasta oder Sushi, Hanteln oder Qigong – banalisiert das nicht die Sache?

Ich wäre zögerlich mit einer kulturkritischen Bewertung. Die Akteure beschäftigen sich teilweise intensiv damit, es ist ein ehrliches Interesse vorhanden. Man entwickelt häufig eine regelrechte Kennerschaft.

Trotzdem verändert sich die Weise, mit den Dingen umzugehen. Sie nennen das «kompositorische Singularität» – man wählt aus dem Vorhandenen aus und kuratiert sein Leben. Richtig?

Tatsächlich geht es in unserer Hyperkultur um Versatzstücke, die man sich von aussen nimmt und sich dann anzueignen versucht. Es ist eben nicht nur eine Konsumhaltung. Die Singularisierung ist nicht bloss ein Spiel mit Etiketten, sondern eine Praxis, die einen die Dinge anders betrachten lässt. Wenn man etwas singularisiert, entdeckt man es in seiner Komplexität. Das ist ja nichts Mystisches. Als Soziologe verstehe ich Komplexität so, dass es verschiedene Knotenpunkte gibt, und dazwischen gibt es Relationen. Der Stuhl, auf dem Sie jetzt sitzen, ist für mich dann kein blosser Plasticstuhl, sondern ich kenne die Geschichte von Ray und Charles Eames, die darin steckt – der Stuhl gewinnt eine Komplexität, der ich mich nicht mehr entziehen kann. So singularisieren wir.

Kann einen das Besondere überfordern?

Auf jeden Fall. Bei einem Kunstwerk, dem Prototyp moderner Singularität, ist es ja für einen selber unberechenbar, in welche Richtungen das einen treibt. Oder beim Individuum: Es ist nicht unbedingt bequem, wenn man den anderen als einzigartig erkennt, sondern herausfordernd.

Sie beschreiben in Ihrem letzten Buch «Die Erfindung der Kreativität» das kulturelle Modell des ästhetischen Menschen am Anfang des 20. Jahrhunderts als Befreiungsversuch. Was wird heute daraus?

Ich denke, wir müssen vorsichtig sein, welche Idee vom Subjekt wir in unseren Bewertungen von Freiheit und Unfreiheit transportieren. Die Idee des authentischen Subjekts ist seit Rousseau tief in unserer Kultur verankert. Ich würde als Soziologe immer sagen: Das Subjekt wird erst in sozialen Bezügen konstituiert. Es ist vorher gar nichts. Diese sozialen Zusammenhänge können einem nahelegen, nach Selbstverwirklichung zu streben. Das ist aber selber wieder eine soziale Fabrikation. Es kommt nicht aus dem Subjekt selber.

Trotzdem sagen Sie, das Streben nach dem Singulären beherrscht die Menschen.

Ja, und es geht darum, zu erkennen, wie sich bestimmte Strukturen sozial verfestigen. Da kann man kritisch ansetzen. Kritik ist in meinem Verständnis kein Tanker, sondern ein wendiges Schnellboot. Das heisst: Es gibt nicht den einen normativen Massstab, den man immer wieder anlegt. Die Kritik muss immer wieder neu ansetzen.

Sie haben einmal gesagt: «Vielleicht waren wir zu sehr auf Kreativität fixiert und dabei nicht kreativ genug.» Wie meinen Sie das?

Gerade die moderne Kultur bringt möglicherweise Widersprüche hervor, die man gar nicht auflösen kann. Das Modell der erfolgreichen Selbstverwirklichung ist vielleicht ein Widerspruch, mit dem man reflektierter umgehen kann. Es gibt natürlich zugleich die Tendenz, sich ganz herauszunehmen aus der Singularisierungslogik. Das geschieht ja auch in dieser ästhetischen Richtung – wie heisst sie: Normcore?

Normcore ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Mechanismus greift, den Sie beschreiben. Begonnen hat es mit der Beobachtung, dass die Mikrounterscheidungen zu anstrengend werden und es jetzt okay ist, so zu sein wie alle anderen – also irgendwelche Hoodies, irgendwelche Sneakers zu tragen. Dann kamen Normcore-Modestrecken, und kurz darauf hämische Kolumnen à la: Wer jetzt cool sein will, der versucht, besonders normal zu sein. Passt das?

Das ist tatsächlich genau die Logik der Singularisierung: Da ist der Versuch, sich zugunsten des Allgemeinen aus dem Spiel des Besonderen herauszuziehen – und in der Beobachtung wird es als Stil gelesen, bei dem es um Abweichung geht.