„Nicht diskutieren!“

taz, 28. Oktober 2009

Die New Yorker Sexologin Dr. Ruth Westheimer über gute Liebhaber, angebrachte Heimlichkeiten und die 45-Minuten-Regel

Sie ist klein, das weiss man – und ist doch überrascht, als Ruth Westheimer in ihrem New Yorker Büro mit ihren 1,40 vor einem steht. Lexington Avenue, 30. Stock: Unten liegt die Stadt, oben hat Ruth Westheimer in ihrem winzig kleinen, aber fensterreichen Büro ein lebendiges Chaos geschaffen. Sie selbst ist so agil, wie es ihr ikonisch erhobener Zeigefinger vermuten lässt. Sie spricht Deutsch mit hessischem Einschlag und englischen Ausdrücken. Im Englischen ist ihr deutscher Akzent so stark, dass man begreift: Mit diesem harten Staccato lässt sich Schlüpfriges in Sachliches verwandeln. Genau so hat Dr. Ruth den Amerikanern den Sex gelehrt. Eine Botschaft in die Schweiz hat sie auch: «Sagen Sie denen, dass ich noch Schwiizer-tüütsch verstehe!»

Dr. Ruth, Sie sprechen seit über dreissig Jahren über Sex. Haben Sie eigentlich noch Hemmungen?

Nein! Es gibt Fragen, da sage ich: Interessant! Das hätte man mich vor zehn Jahren nicht gefragt. Zum analen Sex etwa. Nicht, dass ich keine Antwort habe – aber manchmal wundere ich mich.

Sind wir weitergekommen?

Es gibt viel weniger Frauen, die nicht zum Orgasmus kommen. Weil die Leute jetzt lange genug gehört haben – nicht nur von mir! –, dass man dem Partner sagen muss, was man braucht. Auch der beste Liebhaber kann das nicht erraten. Die Fragen sind die gleichen – nur der Wortschatz ist viel grösser. Und die Leute fragen mich direkter. Früher hat man um die Klitoris und den frühzeitigen Erguss herumgeredet.

Ihr neues Buch heisst «Zehn Geheimnisse für richtig guten Sex». Mit Verlaub – das sind weniger Geheimnisse als vielmehr recht harte Arbeit. Sie nennen das «Hausaufgaben».

Nun, wenn man der Gewohnheit nachgibt, wird Sex langweilig!

Sie sagen: Wer ein interessantes Leben führt, der ist ein besserer Liebhaber. Warum?

Erstens, weil man sich besser fühlt. Und weil die zwischenmenschliche Beziehung interessanter ist – und dann geht es auch besser beim Sex. Der beste Sexualtherapeut kann nichts gegen langweiligen Sex tun, wenn das Paar nicht bereit ist, etwas an- ders zu machen. Nicht diskutieren allerdings! Ich bin nicht dafür, dass man so viel diskutiert.

Das heisst: Nicht streiten?

Nein, streiten ist gut. Aber nicht über Sex! Wenn sie die ganze Zeit analysieren, ob er da jetzt die richtige Brust angefasst hat oder nicht, vergeht die Lust am Sex. Es ist ja keine Mathematik.

Reden wir mal über die Mythen: Wie wichtig ist ein schöner Körper für guten Sex?

Gar nicht wichtig. Es gibt Leute, die sind ganz klein, und Leute, die sind ganz dick, und die können immer noch guten Sex haben. Vielleicht nicht so akrobatisch guten Sex – aber sie können zum Orgasmus gebracht werden.

Und wie wichtig ist die Vorstellung, dass man einen guten Körper hat?

Es ist wichtig, dass man akzeptiert, was man hat. Ich sage Männern, sie sollen vorm Spiegel stehen, eine Erektion haben und sagen: wie fantastisch! Dann werden sie sich nie wieder Sorgen um die Grösse machen. Ich sage nicht, Dicke sollten nicht abnehmen. Aber man soll keine Katastrophe aus seinem Körper machen.

Kommen Leute in Ihre Sprechstunde und sagen: Ich finde meine Frau nicht mehr attraktiv?

Nicht nur das! Oder sie findet ihn nicht mehr attraktiv, weil er jetzt einen Bauch hat, vom Bier. Im Alter ändert sich der Körper, er hat mehr Makel. Aber wenn mir jemand sagt: Ich ekele mich, wenn ich ihn anfassen muss – dann kann ich nichts machen. Da gibt es keine Sextherapie. Da sage ich: Dann lasst euch scheiden.

Ein Paar muss sich noch lieben.

Sie müssen eine gute Beziehung haben. Ich sage nicht: lieben wie in Hollywood.

Ist es ein Problem für den Sex, dass man so viel darüber weiss? Wir haben doch alle ein kleines Leistungskamasutra im Kopf.

Das muss man vergessen, wenn man im Bett ist! Es ist unklug, sich mit anderen Paaren zu vergleichen. Das meiste, was wir lesen, sind ja keine wissenschaftlichen Studien, sondern Behauptungen: Weil Sex sich verkauft. Keine Zeitung, die nicht etwas über Sex bringt. Ich bin übrigens die Erste, die das kauft. Sofort! Vielleicht steht etwas drin, was ich noch nicht weiss. Aber ich sage: aufpassen! Büchern nicht alles glauben. Man muss sich das herausnehmen, was für einen selber passt.

Eine der Aufgaben in Ihrem Buch ist, sich beim Sex mit dem Partner zum Beobachter zu machen. Man soll die Erregung untersuchen – aber nicht zum Orgasmus kommen. Sie schreiben: Vermutlich kommt es bei dieser Übung ohnehin nicht dazu. Heisst also: Das Reden beim Sex stellt ein Problem dar.

Es stellt ein Problem dar, weil wirklich viele Menschen beim Sex völlig in ihrer Fantasiewelt sind. Und die sollen dann zuhören!

Sie sagen: Das Gehirn ist das grösste sexuelle Organ. Es klingt aber eher so, als sei es der grösste Verhinderer.

Ja, man muss es bis zu einem gewissen Grad abschalten. Das muss man üben! Sonst fragt man sich die ganze Zeit: Soll ich jetzt den linken Arm bewegen oder den rechten Fuss? Man muss lernen, mit dem Wohlsein mitzugehen.

Haben Sie ein Beispiel?

Wir wissen, dass jetzt viel mehr Frauen zum Orgasmus kommen. Warum? Weil sie gelernt haben, sich nicht mehr zu sabotieren. Wenn sie früher auf der Kurve des Sexuellen war, hat sich die Frau sehr oft gesagt: Ich komme ja doch nicht, und er wird denken, ich bin zu langsam. Dabei brauchen manche Frauen fünfundvierzig Minuten, und das ist in Ordnung! Ich sage deren Männern: Das ist ihre Art. Früher haben die Frauen oft aufgegeben, weil sie dachten, das sei jetzt für ihn langweilig. Oder er hat die Erektion verloren und die Frau dachte: Das ist meinetwegen.

Und heute?

Sagen sie sich: Ich mache ein bisschen mehr mit, und ich werde einen Orgasmus haben.

Heute heisst es auch, man solle sagen, was man will – so macht man gute Liebhaber. Ist ein «höher, gut so, danke» nicht genau das, was einen aus der Situation herausbringt?

Kommt darauf an, wie man es sagt. Wenn es Kommandos sind, ist das schlecht. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum man nicht so viel reden sollte: Beide müssen zu ihren Fantasien kommen.

Zu denen haben Sie eine klare Meinung: Man soll sie für sich behalten.

Nun, es gibt Fantasien, bei denen man sehr aufpassen muss.

Wenn ich Sex habe und mir dabei jemanden anders vorstelle – ist das Betrügen?

Nein. Aber: Mund halten!

Beim ganzen Reden über Sex: Gibt es noch Tabus?

Ja. Es gibt viele Leute, die keinen analen Sex wollen oder nicht wollen, dass jemand zuschaut. Die sollen auf ihrer Moral bestehen. Auch wenn der andere sagt: Dann gehe ich. Da muss man sagen: Hier ist die Tür, goodbye! Und noch etwas: Es gibt viele Witwen und Witwer, auch in der Schweiz, und ich sage denen: Sie dürfen nicht aufhören, selber sexuell betätigt zu sein. Das ist wichtig! Vibrator, Massagen. Massagen nicht zum Orgasmus, aber damit der Körper lebendig bleibt. Ich bekomme eine Massage, einmal in der Woche, zwei Stunden. Und guck mal, wie grad ich laufe!

Sie reden nie über Ihr Sexleben, aber eine Frage habe ich: Das ganze Wissen um den Sex, hat es ihn besser gemacht?

Ganz bestimmt. Next!

Sexuelle Zufriedenheit – sehen Sie die jemandem an?

Ich sage immer, ich kann auf der Strasse sehen, wer sich selbst befriedigt und wer nicht – lachend natürlich, denn das stimmt so ja nicht. Aber man kann sehen, ob jemand full of life ist. Und dazu gehört ein Orgasmus.

Was ist der grösste Mythos?

Dass ältere Menschen keinen Sex mehr brauchen. Ich sage immer: Sex bis 99.