Das schönste Phantom

NZZ, Gesellschaft, 13.8.2018

Die Dating App Tinder verändert nicht nur die Liebe, sondern auch die Liebenden.

Es ist so: Man kann alles mit Tinder machen. Nur macht Tinder auch etwas mit einem selbst.

Man kann alles mit Tinder machen, weil die Dating-App eigentlich bloss Begegnungen simuliert. Man sieht sich, also: die Bilder voneinander, und wenn man sich gegenseitig interessant findet oder schön oder sexy, dann knallen die beiden Profilbilder zusammen, als würde man in jemanden hineinlaufen. Das Script von Tinder ist: Man trifft sich und hat Sex. Wer das unterläuft, was mit einem verrätselten Portrait und zwei, drei komplexeren Sätzen einfach getan ist, hat schnell kein Script mehr. Was dann? Was ist möglich, wenn sich zwei begegnen, in einem undefinierten Raum? Lose überschrieben mit: Liebesinteresse.

Motivationen, auf Tinder zu sein, gibt es viele. Solche, die Sex suchen, zeigen ihren Oberkörper. Solche, die in einer Beziehung sind, zeigen die Zone zwischen Schlüsselbein und Mund. Ansonsten ist es ein Querschnitt durch zeitgenössische Beziehungsvokabeln. Poly, sapiosexuell, ab und zu ein ‚Ich suche etwas Ernstes‘, oder: ‚Just for fun‘.

Interessant schon mal, dass sich das offenbar ausschliesst! Merkwürdige Begriffe, die wir von der Liebe haben. Sie passen nicht mehr, das ist klar, sie passen nicht mehr auf die Wirklichkeit.

Man kann auf Tinder also das tun, was auf der Strasse eher nicht funktioniert: miteinander sprechen, einfach so. Ich kann das Medium kapern, denke ich mir. Und natürlich kapert das Medium dann auch mich.

Was das Internet und der Kapitalismus mit der Liebe machen, hat keine leidenschaftlicher untersucht als die israelische Soziologin Eva Illouz. Was passiert mit der Liebe in einer Datingstruktur, die eine Marktlogik einführt, in der man vergleicht, mit Kalkül agiert und serielle Begegnungen hat? Mit dieser aus der Romantik stammenden Idee der Liebe, in der eine Liebende nicht abwägt, sondern leidenschaftlich der Einzigartigkeit des anderen verfällt. Nichts Gutes, sagt Illouz. Da sei der beispiellose Zynismus, der in der Wiederholung angelegt ist. Die Unfähigkeit, sich für jemanden zu entscheiden. Sogar das Begehren komme uns abhanden. Eigentlich ist es die totale Katastrophe.

Nur – ist das so?

Sicher ist es klug, die Strukturen zu beschreiben, die unser Verhalten lenken, so präzise wie möglich, wie Illouz es tut. Doch ist Struktur alles? Ist es nicht nirgendwo absurder als in der Liebe, so zu tun, als fände die Realität unabhängig von ihren Akteuren statt? Die Realität der Liebe existiert durch die Liebenden. Und die Akteurin, die sich am entschiedensten in ihr verhalten kann, ist man selbst.

Dass Serialität heikel ist, ist ja klar. Das ist sie auch ohne das Netz, nur spitzt sich dort die Lage zu, der Menge möglicher Begegnungen wegen. Es gibt diesen Moment im eigenen Liebesleben, und es ist kein guter Moment, wo man eine Geste macht, über das Gesicht von einem streicht, vielleicht, und merkt: Die Geste findet statt, sie überzeugt den anderen, aber mich überzeugt sie nicht. Warum nicht? Weil ich in ihr nicht anwesend bin, zumindest nicht ganz. Ich meine die Geste nicht, ich mache sie nur.

Ob man Sätze zu oft sagt oder Gesten zu oft macht, ist eigentlich egal. Es läuft in jedem Fall auf fabelhaft moralische Fragen hinaus: Müssen wir meinen, was wir sagen? Und: Müssen wir meinen, was wir tun? Oder eben: Will ich eine sein, die ihren eigenen Gesten nicht mehr traut? Vollendet ist der Zynismus in der Liebe ja dann, wenn er dem eigenen Selbst gilt. Und jeder kann verlernen, in seinen eigenen Gesten anwesend zu sein. In einer Ehe übrigens auch.

Jetzt kann man sagen: So ist das heute! Wir sind kollektiv abgeklärter, die Liebe ist entzaubert, Sex ist so erquicklich wie ein kühler Gebirgsbach, und der Bach will schliesslich auch nichts zurück.

Es fällt auf Tinder nicht schwer, genau das zu glauben. Es ist schon hart. Die krasse Flüchtigkeit! So eine App ermöglicht Feigheiten, die im realen Leben derart radikal nicht möglich sind. Wer auf Tinder verschwindet, verschwindet spulos. Wer den anderen löscht, löscht die gesamte Konversation: bei beiden. Es ist, als habe es die Realität, die eben noch da war, nie gegeben.

Dass eine virtuelle Konversation aprupt verschwindet, mag kein Drama sein. Längst gibt es einen Namen dafür: Ghosting. Aber die Folgen sind ja interessant. Was sich verändert, ist die Beziehung, die man zum Realen hat. Wenn die Realität so seltsam flüchtig wird, verändert sich die Verantwortung, die man für sie empfindet. Und: Was im Online-Dating normal ist, wird es auch im Echtleben.

Die Realität, für die wir mittlerweile offenbar am wenigsten Verantwortung übernehmen wollen, ist die Realität der Gefühle. Das ist fatal, weil das Gefühl gleichzeitig zum neuen Leitmotiv geworden ist: Anders kann man der Menge möglicher Liebesobjekte ja nicht beikommen als durch radikale Intuition.

Die neue Logik der Gefühle scheint zu sein, dass ein Gefühl, wenn es bei einem selbst verschwunden ist, auch aufhört, je eine Existenz gehabt zu haben. Dass das Gefühl auf der anderen Seite noch vorhanden ist, lässt sich in dieser Logik nur als lästiger Anachronismus begreifen. Soll der andere doch mit der Zeit gehen! Nichts anderes ist ja Ghosting, wenn es in Beziehungen geschieht: dem unzeitgemässen, weil immer noch vorhandenen Gefühl des anderen mit Ausblenden begegnen.

Wie wollen wir miteinander umgehen? Und: wie nicht? Das könnten gute Fragen sein, wenn man über Liebe spricht. Nicht aus einer überkommenen oder abstrakten moralischen Idee heraus. Sondern weil wir es anders wollen, eigentlich.

„Resonanz“, so nennt es der Soziologe Hartmut Rosa. Es gebe eine Sehnsucht danach, dass die Welt antwortet, sagt er, eine Sehnsucht, in der eigenen Einzigartigkeit erkannt zu werden. Er spricht vom „Antwortverhältnis zur Welt“. Resonanz, sagt Rosa, sei kein Gefühl, sondern ein „Beziehungsmodus“.

Das, selten und verdammt schön, kann auf Tinder ja auch passieren: dass sich zwei Wesen begegnen. Man kann, wenn man Sprache mag, die Konturen eines anderen genauer erspüren als viele, die sich gegenübersitzen. Man kann sich hinter Sprache, wenn eine Unterhaltung per Text schnell hin und hergeht, nicht gut verstecken. Man kann, auf der Ebene von Text allein, ungeheuer viel sehen und sogar ehrlicher sein. Ein irritiertes Flirren im Ton dieses – zugegebenermassen – Phantoms wahrnehmen, mit dem man schreibt, und das benennen können. Man kann dem Phantom sagen, wenn es sich herausredet. Er sei verzaubert, schreibt das schönste Phantom.

Wie gut sich das ins Reale übersetzen lässt, ist eine andere Frage.

„Kann man sich wirklich in jemanden verlieben, aus der Ferne?“, fragt ein Freund.

Er sei für das Reale einfach zu feige, schreibt das schönste Phantom schliesslich.

Immerhin!
Fragen wir uns doch mal, kollektiv, welche von unseren Ideen über die Liebe wahr sind, oder zumindest hilfreich, oder zumindest halbwegs zu Ende gedacht. Begriffe sind ja nicht bloss Namen, die wir den Dingen geben: Sie erklären uns, was diese Dinge sind. Die Begriffe, die wir von der Liebe haben, sind entscheidend dafür, wie wir sie erleben. Die Realität ist nicht immer so glorios wie die Idee von ihr, aber wenn nicht einmal die Ideen mehr glorios sind: Was sollen das dann für Realitäten sein?

Etwa das: Ist Verliebtheit eine Verblendung, die notwendig verschwinden muss? Die bald durch einen realistischen, lies: unbegeisterten Blick auf den anderen ersetzt wird? Wie wäre es, wenn Verliebtheit sehend macht? Dafür, wie eigen, klug und fabelhaft der andere ist.

Wiederholung in der Liebe ist ja nicht nur böse, sie lehrt einen auch etwas. Sie lehrt einen, genauer zu sein – auch damit, was wir meinen, wenn wir Liebe sagen. Präziser zu unterscheiden zwischen grossen Gefühlen und kleinlichen. In der romantischen Liebe etwa, die sehr zornig wird, wenn der andere nicht romantisch zurückliebt. Empört! Und: Boom! Weg ist sie. Mit all ihrer Verbindlichkeit.

Resonanz sei ‚unverfügbar‘, sagt Hartmut Rosa. Es gibt keine Garantie für sie. Man kann stabile Resonzachsen bauen, das sagt er auch. Unverfügbar bleibt Resonanz trotzdem.

Die eigentliche Freiheit, die wir heute haben in der Liebe, liegt in der Scriptlosigkeit. Was sie verlangt, ist eine ungeheure emotionale Literarität. Wir müssen kundiger werden im Umgang mit dem eigenen Gefühl. Nicht, weil die Scriptlosigkeit notwendig unverbindlich ist. Sondern weil da wirklich neu erfunden wird, wie man miteinander umgehen kann – eben auch im Guten. Welche Formen Liebe finden kann, jenseits der bekannten Formen.

Wir machen nicht genug daraus.

Wir könnten.